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Interview

Die Mobilitätswende: ökologisch, sozial und demokratisch – wie kann das gelingen?

22. September 2023

BUND und IG Metall entwerfen gemeinsam Zukunftsszenarien für die Mobilitätswirtschaft in Deutschland im Jahr 2030, bereiten sich darauf vor und formulieren Handlungsoptionen.

Eine überraschende Zusammenarbeit? – Eine wichtige mit viel Potential: Einer der größten deutschen Umweltverbände und die größte deutsche Einzelgewerkschaft arbeiten gemeinsam an der Mobilitätswende.

Wie die beiden Organisationen zusammengefunden haben und wieso Ökologie und Ökonomie kein Gegensatz sein müssen, darüber sprachen wir mit Lia Polotzek, Abteilungsleitung Politische Strategie beim BUND, und Thomas Würdinger, Leiter des Ressorts Grundsatzfragen bei der IG Metall.

Frau Polotzek, wie kommt der BUND zur IG Metall, oder umgekehrt? Wie entsteht so eine Zusammenarbeit?

Aus Begegnungen und aus Vertrauen, das wächst. Von Seiten des BUND ist es uns wichtig, Wege zu finden, wie die aufgrund der Klima- und Umweltkrisen notwendige Transformation gerecht gestaltet werden kann. BUND und IG Metall verbindet eine lange Geschichte des Austauschs und der Zusammenarbeit. Schon in den frühen 1990er Jahren haben wir gemeinsame Forderungen zu Wegen aus der Verkehrskrise veröffentlicht. Nach vielen bilateralen Gesprächen und einer gemeinsamen Positionierung von BUND, NABU und IG Metall zur Energie- und Mobilitätswende im Jahr 2019 ist zwischen BUND und IG Metall die Idee entstanden gemeinsam verschiedene Szenarien für die Mobilitätswirtschaft in Deutschland im Jahr 2030 zu entwerfen. Es ging uns  darum, eine langfristige Perspektive zu entwickeln: Wohin kann sich die Mobilitätsbranche entwickeln und wie können wir ökologische und soziale Fragen zusammenbringen?

„Aufgrund der vielfachen Umweltkrisen ist es notwendig, die Industrie umzubauen und umzusteuern, wie wir produzieren, konsumieren.“

Lia Polotzek

1. Szenario: »Teilweise innovativ, teilweise international abgehängt«. Manche Städte widmen Straßen in Fahrradwege um. Zugleich nimmt aber der Pendlerverkehr zu.

Sie sprechen hier von einer sozial-ökologischen Transformation, richtig?

Ja, sozial-ökologische Transformation bedeutet, dass beide Seiten berücksichtigt werden müssen – Fragen sozialer Gerechtigkeit und die Belange der Beschäftigten ebenso wie der Erhalt der Natur und der Schutz der Umwelt. Die Klimakrise ist nicht die einzige Umweltkrise, auch die Biodiversitätskrise gefährdet unser Überleben auf diesem Planeten. Dabei gehen etwa 90 Prozent des Artensterbens weltweit auf den Verbrauch von Ressourcen zurück. Aufgrund der vielfachen Umweltkrisen ist es notwendig, die Industrie umzubauen und umzusteuern, wie wir produzieren, konsumieren. Mit Blick auf die Mobilitätswirtschaft sind viele Arbeitsplätze in Deutschland von der Autoindustrie abhängig, ein Wandel ohne die dort Beschäftigen ist  nicht denkbar. Wir brauchen ihre Perspektive und wollen den Dialog.

Herr Würdinger, Sie haben gemeinsam mit Frau Polotzek in einem Team von etwa 20  BUND- und  IG-Metall-Expert:innen Gedankenexperimente unternommen, Szenarien auf Plausibilität geprüft und damit alternative langfristige Entwicklungen beschrieben. Wozu die ganze Mühe?

Zunächst einmal: Szenarien, die mithilfe der GfG auch eine eingängige wie ansprechende visuelle Ausdrucksform angenommen haben, sind Instrumente, um sich ungewissen Zukünften nähern zu können. Wir betrachten mögliche Ereignisse und ihre Auswirkungen – und ziehen daraus unsere Schlüsse. Damit gleichen wir unser Handeln von heute mit möglichen Zukünften ab . Das ist extrem wertvoll. Konkret, bezogen auf die gemeinsame Szenarienentwicklung mit dem BUND, haben wir vier Ziele verfolgt: Erstens war der beidseitige Wunsch groß, voneinander zu lernen. Allein der Austausch von Perspektiven war ein Gewinn für alle Beteiligten. Zweitens sollte das Projekt dabei helfen, Gemeinsamkeiten in Zukunftserwartungen, Zielen und Positionen zu identifizieren. Drittens wollten wir herausfinden, ob wir bei der Gestaltung der Zukunft an einem Strang ziehen können, welche Möglichkeiten sich hier bieten. Damit ist auch das vierte Ziel umrissen: Die Szenarien sollten Impulse für weiteren strategischen Austausch zwischen IG Metall und BUND liefern.

2. Szenario: »Guter Anfang, dann alle Weichen auf Mobilität gestellt«. Selbstfahrende Fahrzeuge in der Stadt, wasserstoffbetriebene Kleinbusse auf dem Land, Autobahnen mit Telematiksystemen – längst mehr als Modellversuche.

Wie setzen Sie die Szenarien ein, Frau Polotzek?

Tatsächlich, und darüber bin ich sehr froh, funktionieren die Szenarien gut, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Szenarien helfen innerhalb der eigenen Organisation ebenso wie bei der Ansprache von Externen. Wir haben während der Szenarienentwicklung gemeinsame politische Forderungen zur Mobilitäts- und Energiewende entwickelt. Diese haben wir zum Auftakt der Koalitionsverhandlungen 2021 veröffentlicht. Gleichzeitig arbeiten wir daran, gemeinsame Politiklabore vor Ort durchzuführen, bei der lokale Aktive von BUND und IG Metall gemeinsam konkrete Konflikte diskutieren. Bis heute hat sich schon viel bewegt.

Was ist Ihre zentrale Erkenntnis aus dem Prozess, Herr Würdinger?

Die wechselseitige Annäherung ist möglich. Je strukturierter der Prozess, je offener die Diskussion und je wertschätzender der Umgang miteinander, desto größer die Chance, von anderen zu lernen. Die gemeinsame Arbeit an einem mobilitätspolitischen Leitbild unterstreicht, wie wichtig die Art und Weise, der Prozess zur Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation ist. Es geht nicht nur um Fragen von Akzeptanz, darum „mitgenommen zu werden“. Es braucht Teilhabe, Beteiligung und Mitbestimmung. Wir fügen der sozial-ökologischen Transformation daher stets ein Attribut hinzu: demokratisch!

„Die gemeinsame Arbeit an einem mobilitätspolitischen Leitbild unterstreicht, wie wichtig die Art und Weise, der Prozess zur Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation ist.“

Thomas Würdinger

3. Szenario: »Zwischen Transformation und Konversion«. Wohlstand statt Wachstum: Einstellungen und Mobilitätsverhalten wandeln sich.

Würden Sie aufgrund der guten gemachten Erfahrungen mit der IG Metall den Raum für weitere Kooperationspartner:innen öffnen, Frau Polotzek?

Weitere Kooperationen sind vorstellbar. Allerdings muss man bei breiten Bündnissen aufpassen: Als BUND handeln wir wirkungsorientiert. Persönlich bin ich der Meinung, dass größere Bündnisse die Gefahr bergen, an Wirksamkeit zu verlieren, wenn sie nicht ausreichend zielgerichtet sind. Die Forderungen können allgemeiner werden und Absenderschaft und Ziele verwaschen. Beides wäre nicht gut für unsere Arbeit.

Noch eine letzte Frage in eigener Sache: Video oder Broschüre, welches Medium hat für Sie besser funktioniert?

TW: Beides! Die Videos, auch als Teaser, funktionieren auf Veranstaltungen wunderbar, lösen Gespräche aus. Die Broschüre liest sich eher wie eine Anleitung zur Nachahmung. Das ist auch gut so. Sie zeigt, wie fundiert der Szenarienprozess war, sie unterstützt die Relevanz der Zukunftsbilder.


Das Interview mit Lia Polotzek und Thomas Würdinger führte Hanke Homburg. Verschriftlicht und auf den Punkt gebracht durch Katrin Johnsen.

Lia Polotzek

Lia Polotzek leitet die Abteilung Politische Strategie beim Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). Im Rahmen dieser Arbeit beschäftigt sie sich u.a. mit der sozial-ökologischen Transformation des Wirtschaftssystems.

Thomas Würdinger

Thomas Würdinger ist Leiter des Ressorts Ressort Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik in der IG Metall Vorstandsverwaltung und koordiniert den bündnispolitischen Austausch mit dem BUND.



Weitere Informationen zum Projekt:
www.mobilitaetssektor2030.de

Broschüre zum Download:
Szenarien für den Mobilitätssektor 2030