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Porträt von Miko Stephan aus dem Ausstellungsteam der GfG / Gruppe für Gestaltung
Miko Stephan studierte Innenarchitektur an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) in Hildesheim. Nachdem er bereits während seines Studiums ein Praktikum bei der GfG absolviert hatte, stieg er nach seinem Abschluss im Herbst 2022 fest in das GfG-Ausstellungsteam ein.

Zukunft gestalten

Interview

„Ich konfrontiere auf mitfühlende Weise mit einem Tabuthema“

15. Juni 2023

Als Miko Stephan zu uns kam, hatte er etwas ziemlich Gutes im Gepäck: ein bedürfnisorientiertes Raumkonzept für wohnungslose Menschen.

Miko, in deiner Abschlussarbeit an der HAWK hast du Räume für wohnungslose Menschen entworfen – was war dein Antrieb, dich mit diesem Thema auseinanderzusetzen?

Als ich vor zwei Jahren ein Praktikum in Bremen machte, kam ich auf dem Weg zur Arbeit jeden Tag an einer Brücke vorbei, unter der ein obdachloser Mensch sein Lager aufgebaut hatte. Für mich war das spontan schwer nachvollziehbar, warum sich ein Mensch für diese Art zu leben entscheidet, wo der Staat doch eigentlich eine Unterkunft bereitstellen müsste. Ich fragte mich, ob das wohl eine persönliche Entscheidung oder durch äußere Umstände getrieben ist. Je länger ich darüber nachdachte, desto unangenehmer sind mir meine eigenen Vorurteile aufgestoßen. Ich hatte gleich so ein stereotypes und diskriminierendes Bild im Kopf: Bestimmt ist die Person alkohol- oder drogenabhängig. Ich habe mich dann gefragt, woher ich eigentlich die Überzeugung nehme, dass ich Menschen, mit deren Alltag ich keine Berührung habe, so bewerte. Ich wollte meinen eigenen Vorurteilen etwas entgegensetzen – und dafür musste ich meine Komfortzone verlassen.

„Ich wollte meinen eigenen Vorurteilen etwas entgegensetzen.“

Dein Konzept ist bedürfnisorientiert. Woher wusstest du, welche konkreten Bedürfnisse wohnungslose Menschen haben?

Für Deutschland gibt es dazu kaum einsehbare Zahlen, nur Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Also beschloss ich, Betroffene direkt zu befragen, um Daten zu erhalten. Dabei hat mir die Herberge zur Heimat in Hildesheim sehr unter die Arme gegriffen. Vor allem Leiterin Daniela Knoop war mit großem Eifer dabei und hat jede noch so kleine meiner Nachfragen geduldig beantwortet. Mit ihrer Hilfe konnte ich eine kleine Umfrage unter den Bewohner:innen und Besucher:innen der Einrichtung machen. Ihre Antworten waren ein erster Schritt, um zu verstehen, für wen ich eigentlich entwerfen will.

Eine Unterführung für Fußgänger und Radfahrer in Bremen
Das unter dieser Brücke in Bremen errichtete Lager eines von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen brachte bei Miko einen Denkprozess ins Rollen.
Foto von der Herberge zur Heimat in Hildesheim, einer Unterkunft für obdachlose Menschen. Man sieht das Gebäude von vorne.
Die Herberge zur Heimat in Hildesheim, eine Unterkunft für wohnungslose Menschen. Miko führte dort eine Befragung unter den Bewohner:innen und Besucher:innen durch.

Was kam dabei heraus – was brauchen die Betroffenen im Alltag am dringendsten?

Im Grunde gibt es keinen großen Unterschied zwischen den Bedürfnissen von wohnungslosen Menschen und solchen mit Wohnsitz. Am ehesten noch jenen, dass die Bedürfnisse wohnungsloser Menschen weniger durch den Wunsch nach Status und sozialer Anerkennung eingefärbt sind.

„Es gibt keinen großen Unterschied zwischen den Bedürfnissen von wohnungslosen Menschen und solchen mit Wohnsitz.“

Aus der Umfrage haben sich drei Grundbedürfnisse herauskristallisiert: Erstens Privatsphäre, also schlicht die Möglichkeit, in einem Raum mit Tür zu leben, die ich schließen kann, wenn ich das möchte. Zweitens Hygiene – die Möglichkeit, sich zu waschen und zu pflegen, die für wohnungslose Menschen oft nicht gegeben ist. Und drittens sozialer Austausch nach Bedarf, das heißt, sich mit anderen treffen und austauschen zu können, wenn die Lust dazu da ist.

Goldenes Miniaturmodell der ehemaligen Bahnhofsschule in Hildesheim
Mit einem goldenen Gebäude-Modell hat Miko in seiner Arbeit ein Zeichen gesetzt – gegen die Diskussion um „Luxus“, die er im öffentlichen Diskurs zu Wohnheimen für wohnungslose Menschen irritierend findet.

Neben den Erkenntnissen aus der Umfrage gab es eine für mich sehr ergreifende Erfahrung, die ebenfalls in meine Planung eingeflossen ist: Einer der Bewohner der Herberge zur Heimat zeigte mir voller Stolz sein Zimmer. Es war nicht sehr groß und bis fast unter die Decke dekoriert mit kleinen Plastikblumen und -figuren – Dinge die bis dahin immer als kitschigen Plastikkram wahrgenommen hatte – sowie mit Bildern von vertraut wirkenden Menschen. Dieser Einblick, den er mir gewährte, zeigte mir, dass es nicht viel Platz braucht, damit sich jemand zuhause fühlt. Wichtiger ist, dass ein Mensch sein Umfeld persönlich gestalten und sich dadurch dort geborgen fühlen kann.

Wie finden sich diese Erkenntnisse in deinem Raummodell wieder?

Ich habe ein Raummodul entwickelt, das ich in drei Zonen unterteilt habe: einen Ruhebereich mit Schlafplatz, einen Bereich zur freien Verfügung und für das Zusammensein mit Gästen und – vorausgesetzt das Gebäude lässt es zu – ein eigenes kleines Badezimmer. Es gibt viel Stauraum, wo Besitztümer untergebracht werden können, auch das ist wichtig, weil wohnungslose Menschen oft einen kleinen Hausstand bei sich haben.

Raummodul mit drei Zonen: einem Ruhebereich mit Schlafplatz, einem Bereich zur freien Verfügung und für das Zusammensein mit Gästen und einem kleinen Badezimmer.
Raummodul mit drei Zonen: einem Ruhebereich mit Schlafplatz, einem Bereich zur freien Verfügung und für das Zusammensein mit Gästen und einem kleinen Badezimmer.

Im Zentrum befindet sich eine Schiebewand. Sie hat eine magnetische und beschreibbare Oberfläche, sodass sie mit Zeichnungen oder Bildern persönlich gestaltet werden kann. Die Wand kann zur Seite geschoben werden, sodass die Räume verbunden sind. Das kommt denjenigen entgegen, die schon länger auf der Straße leben und sich in engen und geschlossenen Räumen inzwischen unwohl fühlen. Durch den offenen Charakter können sie trotzdem zur Ruhe kommen. Und andersrum können diejenigen, die sich nach möglichst viel Intimsphäre sehnen, die Wand als Raumtrennung und Abschirmung einsetzen.

Raummodell mit Schiebewand. Diese hat eine magnetische und beschreibbare Oberfläche und ist mit Zeichnungen und Bildern persönlich gestaltet.
Raummodell mit Schiebewand. Diese hat eine magnetische und beschreibbare Oberfläche und ist mit Zeichnungen und Bildern persönlich gestaltet.

Um verschiedenen Personengruppen gerecht zu werden, habe ich das Modul in drei Varianten weiterentwickelt: für Alleinstehende – für Paare – und für Menschen, die, etwa aufgrund einer Behinderung, eine barrierearme Umgebung brauchen.

Wer kann oder soll ein solches Konzept am Ende umsetzen – gibt es dafür einen „Markt“?

Eine faszinierende Frage. Wohnungslose Menschen sind gerade wegen ihrer wenigen Besitztümer eine Personengruppe ohne Lobby. Somit funktioniert die Logik des freien Marktes hier nicht, da sie ohne Kapital von vornherein ausgeschlossen werden. Letztendlich ist der „Markt“ die Verpflichtung des Sozialstaats, dafür zu sorgen, dass alle Menschen ein Angebot auf eine Wohnung erhalten. Nicht nur temporär, wie in Notunterkünften, sondern als Wohnung, die den Menschen einen verlässlichen Rückzugsort gibt.

„Der ‘Markt’ ist die Verpflichtung des Sozialstaats, dafür zu sorgen, dass alle Menschen ein Angebot auf eine Wohnung erhalten, und zwar nicht nur temporär.“

Initiativen wie „Housing First“ legen dazu gerade den Grundstein. Deren Idee ist, dem wohnungslosen Menschen erst eine Wohnung zu geben, damit er sich dann seinen persönlichen Problemen widmen kann. In Deutschland ist es bisher umgekehrt: Wohnungslose Menschen bekommen oft erst dann eine Wohnung angeboten, wenn sie ihre Probleme im Griff haben.

Welches Feedback gab es für deine Arbeit von deinen beiden Prüfer:innen?

Dass ich zwei Kompetenzfelder miteinander verbunden habe, ist ja erstmal nichts Neues. Schon aber, dass es die beiden Bereiche Innenarchitektur und Soziale Arbeit sind. Das war in der Prüfung auch ein ziemlicher Spagat, den Ansprüchen dieser beiden Seiten gerecht zu werden. Deswegen freue ich mich sehr, dass sowohl meine Prüferin aus der Sozialen Arbeit als auch mein Prüfer aus der Innenarchitektur diesen Spagat als geglückt beurteilt haben. Außerdem hat ihnen gut gefallen, dass ich den direkten Kontakt zur Zielgruppe gesucht habe und den Aufwand einer eigenen Datenerhebung auf mich genommen habe.

„Die Verbindung von Innenarchitektur und Sozialer Arbeit war eine Herausforderung.“

Besonders bereichernd ist für mich, dass ich auch über den Prüfungskontext hinaus einen Dialog eröffnet habe. Meine Abschlussarbeit bietet immer wieder Anlass mit anderen ins Gespräch zu kommen und sie auf mitfühlende Weise mit dem Tabuthema Obdachlosigkeit zu konfrontieren.

Und wie sieht dein persönliches Fazit aus – was nimmst du für dich aus dieser Abschlussarbeit mit?

Es lohnt sich, die eigenen Annahmen oder am Ende eben Vorurteile auf ihren Realitätsbezug zu überprüfen. Mein Klischeedenken hat seinen Ursprung auch in der systematischen Stigmatisierung und Abwertung, die obdachlose Menschen durch das NS-Regime erfahren haben – eine ernüchternde Erkenntnis.

„Es war eine nüchterne Erkenntnis, wo mein Klischeedenken seinen Ursprung hat.“

Wohnungslosigkeit ist ein komplexes Thema, sowohl was das Hilfesystem bei uns angeht als auch die vielen Faktoren, die einen Einfluss darauf haben, ob ein Mensch wohnungslos wird. Viele Betroffene haben Schicksalsschläge hinter sich, leiden unter einer psychischen Erkrankung oder kämpfen gegen eine Sucht – „Einfach arbeiten gehen“ ist angesichts dessen eine ebenso unrealistische wie empathielose Empfehlung. Da braucht es noch viel Aufklärungsarbeit.

Ist das Projekt mit dem Abschluss eigentlich abgehakt oder planst du, das Thema weiterzuverfolgen?

Mich fasziniert das Thema nach wie vor und ich verfolge gespannt, welche Lösungsansätze weltweit entwickelt werden, um den Bedürfnissen wohnungsloser Menschen besser gerecht zu werden. Wie ich persönlich dazu weiterarbeite, habe ich noch nicht entschieden. Eine Auseinandersetzung in Form einer Ausstellung könnte ich mir sehr gut vorstellen. Gerade um Vorurteile weiter abzubauen, wäre das ein vielversprechender Ansatz.


Mehr Infos zu Mikos Abschlussarbeit auf der Website der HAWK:
https://projekte.g.hawk.de/projekt/62eacadddf330