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Bildung und Forschung

Pulverfabrik Liebenau: neue Gedenk- und Bildungsstätte

04. März 2024

Die ehemalige Pulverfabrik in der niedersächsischen Gemeinde Liebenau war einer der größten Rüstungsbetriebe der NS-Zeit. Circa 20.000 Männer und Frauen aus den von der Wehrmacht besetzten Ländern wurden nach Liebenau verschleppt. Sie mussten dort Pulver produzieren, das die Wehrmacht für Patronen, Granaten und andere Geschosse benutzte. Mehr als 2.000 von ihnen – vor allem sowjetische Kriegsgefangene und osteuropäische Häftlinge aus einem nahe gelegenen Arbeitserziehungslager – starben an den Strapazen oder wurden ermordet. Eine neue Gedenk- und Bildungsstätte erinnert an ihr Schicksal und arbeitet ihre Geschichte auf.

Im Herbst 2023 wurde die Gedenk- und Bildungsstätte Pulverfabrik Liebenau eröffnet. Kern ist eine Dokumentationsstelle mit Dauerausstellung, die ein Team aus GfG und oblik identity design gestaltet hat.

Von der Schule zur Gedenkstätte

Heimat der Gedenk- und Bildungsstätte ist eine ehemalige Schule in Liebenau. Für die neue Nutzung waren größere Veränderungen notwendig: Die Räume wurden entkernt, umgebaut und ihr klassischer „Schulcharakter“ aufgebrochen.

Ein neu angebautes Foyer schafft Aufmerksamkeit und eine Verbindung zwischen den verschiedenen Bereichen des Gebäudes. Neben der Dokumentationsstelle zur Pulverfabrik haben dort Akteur:innen wie die kommunale Jugendhilfe und die Migrationsberatungsstelle ein Zuhause gefunden.

Die Gedenk- und Bildungsstätte ist in einer ehemaligen Hauptschule beheimatet. Entsprechend mutete die Atmosphäre im Gebäude vor dem Umbau an:
Typische Klassenzimmer.
Lange Schulflure.
Für die Umnutzung wurden die Räume komplett umgestaltet und wo nötig aufgebrochen.
Die langen Flure wurden in einen Ausstellungsbereich integriert.
Durch das neue Foyer (Architekturbüro Lindener Baukontor) hat sich das Gebäude auch äußerlich sichtbar verändert.

Die Dokumentationsstelle: ein Ort zum Lernen und Begegnen

Die Dokumentationsstelle mit Dauerausstellung bildet den Kern der neuen Gedenk- und Bildungsstätte. Bei der Gestaltung – einem Gemeinschaftsprojekt von GfG und oblik identity design – wurde besonders berücksichtigt, dass sie ein wichtiger Ort für die politische Bildungsarbeit mit jungen Menschen ist: ein Ausgangspunkt für Veranstaltungen und Projekte mit Jugendlichen aus Liebenau und aus den Heimatländern der ehemaligen Zwangsarbeitenden. 

Deswegen verfolgt die Ausstellung einen didaktischen Ansatz, ermöglicht verschiedene niedrigschwellige Zugänge und öffnet immer wieder Räume für Dialog. Keine klassische Gedenkstätte, sondern ein lebendiger Ort der Begegnung.

 

Berichte von Zeitzeug:innen im Fokus

Die Ausstellungsnarration legt den Fokus auf Zeitzeug:innen und ihre persönlichen Erfahrungen. Verschiedene Protagonist:innen begleiten die Besucher:innen durch die Ausstellung, sprechen mit ihnen und lassen sie an ihrer Perspektive teilhaben. Orte, Objekte und Umstände werden mit ihren persönlichen Geschichten verknüpft. Auf diese Weise erhält das historische Thema Zwangsarbeit ein Gesicht.

Eine Besonderheit: der authentische Ort 

Neben seiner historischen Bedeutung ist das Gelände der ehemaligen Pulverfabrik auch aufgrund seiner Beschaffenheit außergewöhnlich. Mit 12 Quadratkilometern ist es fast unvorstellbar groß. Rund 400 Bunker und Produktionsgebäude befinden sich dort. Es ist seit dem Zweiten Weltkrieg vollständig erhalten geblieben, was eine Seltenheit ist. Das Gelände kann nach der Ausstellung besichtigt werden. Allerdings liegt es in einiger Entfernung zum Dokumentationszentrum.

 

Das Gelände der ehemaligen Pulverfabrik liegt in einem ausgedehnten Waldstück in der Nähe von Liebenau. Etwa 400 Gebäude gehörten zur Anlage – die meisten stehen heute noch.
Das Werk war einer der größten NS-Rüstungsbetriebe und im Auftrag des Oberkommando des Heeres (OHK) und der der Walsroder Firma Wolff & Co errichtet worden.

Verbindung zwischen Gelände und Ausstellung

Um eine Verbindung zu dem authentischen Ort herzustellen, hat die Ausstellung Weg gesucht, den Ort mit einzubeziehen. 

In jedem Ausstellungsraum befinden sich großformatige Tapeten mit Bildern des Fabrikgeländes. Bodengrafiken mit Kartenausschnitten stellen ebenfalls einen Bezug her und verorten die Ausstellung geografisch. Ein Drohnenfilm macht die Dimensionen des Geländes greifbar und eine VR-Brille ermöglicht einen virtuellen Rundgang.

Gedenken: nie erzwungen – aber immer ermöglicht

Die Ausstellung ist als Rundweg konzipiert, der der Ausstellungsnarration folgt. Im Zentrum steht der Raum der Erinnerung – dort sind die Namen und Daten der Opfer an der Wand aufgeführt. Dieser Raum ist bewusst von allen Bereichen aus zugänglich. Gedenken soll nicht erzwungen werden, aber den Besucher:innen jederzeit möglich sein.

Eine Ausstellung, die wachsen kann

Die historische Aufarbeitung der ehemaligen Pulverfabrik steht noch am Anfang. Nicht alle Archive und Quellen sind bereits zugänglich. Bei der Konzeption der Ausstellung wurde berücksichtigt, dass in Zukunft neue Exponate, Dokumente und Geschichten hinzukommen können. Modulare Elemente wie Streckmetallgitter lassen sich flexibel neu anordnen – und machen die Ausstellung zu einem offenen Archiv, das sich verändern und entwickeln kann.


Über die Autorin

Ninja Hofmann leitet die Redaktion und Öffentlichkeitsarbeit der GfG / Gruppe für Gestaltung. An ihrem Job mag sie besonders die guten Gespräche und dass sie immer wieder über den Tellerrand geschoben wird.