Die ehemalige Pulverfabrik in der niedersächsischen Gemeinde Liebenau war einer der größten Rüstungsbetriebe der NS-Zeit. Circa 20.000 Männer und Frauen aus den von der Wehrmacht besetzten Ländern wurden nach Liebenau verschleppt. Sie mussten dort Pulver produzieren, das die Wehrmacht für Patronen, Granaten und andere Geschosse benutzte. Mehr als 2.000 von ihnen – vor allem sowjetische Kriegsgefangene und osteuropäische Häftlinge aus einem nahe gelegenen Arbeitserziehungslager – starben an den Strapazen oder wurden ermordet. Eine neue Gedenk- und Bildungsstätte erinnert an ihr Schicksal und arbeitet ihre Geschichte auf.
Heimat der Gedenk- und Bildungsstätte ist eine ehemalige Schule in Liebenau. Für die neue Nutzung waren größere Veränderungen notwendig: Die Räume wurden entkernt, umgebaut und ihr klassischer „Schulcharakter“ aufgebrochen.
Ein neu angebautes Foyer schafft Aufmerksamkeit und eine Verbindung zwischen den verschiedenen Bereichen des Gebäudes. Neben der Dokumentationsstelle zur Pulverfabrik haben dort Akteur:innen wie die kommunale Jugendhilfe und die Migrationsberatungsstelle ein Zuhause gefunden.
Die Dokumentationsstelle mit Dauerausstellung bildet den Kern der neuen Gedenk- und Bildungsstätte. Bei der Gestaltung – einem Gemeinschaftsprojekt von GfG und oblik identity design – wurde besonders berücksichtigt, dass sie ein wichtiger Ort für die politische Bildungsarbeit mit jungen Menschen ist: ein Ausgangspunkt für Veranstaltungen und Projekte mit Jugendlichen aus Liebenau und aus den Heimatländern der ehemaligen Zwangsarbeitenden.
Deswegen verfolgt die Ausstellung einen didaktischen Ansatz, ermöglicht verschiedene niedrigschwellige Zugänge und öffnet immer wieder Räume für Dialog. Keine klassische Gedenkstätte, sondern ein lebendiger Ort der Begegnung.
Die Ausstellungsnarration legt den Fokus auf Zeitzeug:innen und ihre persönlichen Erfahrungen. Verschiedene Protagonist:innen begleiten die Besucher:innen durch die Ausstellung, sprechen mit ihnen und lassen sie an ihrer Perspektive teilhaben. Orte, Objekte und Umstände werden mit ihren persönlichen Geschichten verknüpft. Auf diese Weise erhält das historische Thema Zwangsarbeit ein Gesicht.
Neben seiner historischen Bedeutung ist das Gelände der ehemaligen Pulverfabrik auch aufgrund seiner Beschaffenheit außergewöhnlich. Mit 12 Quadratkilometern ist es fast unvorstellbar groß. Rund 400 Bunker und Produktionsgebäude befinden sich dort. Es ist seit dem Zweiten Weltkrieg vollständig erhalten geblieben, was eine Seltenheit ist. Das Gelände kann nach der Ausstellung besichtigt werden. Allerdings liegt es in einiger Entfernung zum Dokumentationszentrum.
Um eine Verbindung zu dem authentischen Ort herzustellen, hat die Ausstellung Weg gesucht, den Ort mit einzubeziehen.
In jedem Ausstellungsraum befinden sich großformatige Tapeten mit Bildern des Fabrikgeländes. Bodengrafiken mit Kartenausschnitten stellen ebenfalls einen Bezug her und verorten die Ausstellung geografisch. Ein Drohnenfilm macht die Dimensionen des Geländes greifbar und eine VR-Brille ermöglicht einen virtuellen Rundgang.
Die Ausstellung ist als Rundweg konzipiert, der der Ausstellungsnarration folgt. Im Zentrum steht der Raum der Erinnerung – dort sind die Namen und Daten der Opfer an der Wand aufgeführt. Dieser Raum ist bewusst von allen Bereichen aus zugänglich. Gedenken soll nicht erzwungen werden, aber den Besucher:innen jederzeit möglich sein.
Die historische Aufarbeitung der ehemaligen Pulverfabrik steht noch am Anfang. Nicht alle Archive und Quellen sind bereits zugänglich. Bei der Konzeption der Ausstellung wurde berücksichtigt, dass in Zukunft neue Exponate, Dokumente und Geschichten hinzukommen können. Modulare Elemente wie Streckmetallgitter lassen sich flexibel neu anordnen – und machen die Ausstellung zu einem offenen Archiv, das sich verändern und entwickeln kann.
Ninja Hofmann leitet die Redaktion und Öffentlichkeitsarbeit der GfG / Gruppe für Gestaltung. An ihrem Job mag sie besonders die guten Gespräche und dass sie immer wieder über den Tellerrand geschoben wird.