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Denkorte

Bildung und Forschung

Neue Blicke auf die „Hölle von Dora“

24. November 2023

Die Neugestaltung der didaktischen Erschließung der Stollenanlage.

Von Anett Dremel und Karsten Uhl

Seit dem Sommer 2022 wird in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora an der didaktischen Erschließung des historischen Stollens gearbeitet. Auf der Basis einer Zuwendung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und den Freistaat Thüringen wird die Ausstellung, die seit 1999 unter Tage zu sehen ist, durch neue Gestaltungsformen ersetzt werden. Für den 79. Jahrestag der Befreiung im April 2024 ist die Präsentation des neuen Erscheinungsbildes vorgesehen.

Die historische Stollenanlage in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora gehört zu den wichtigsten Zeugnissen für die mörderische Zwangsarbeit, die KZ-Häftlinge für die NS-Rüstungswirtschaft leisten mussten. Ursprünglich als Tanklager gebaut, wurde die leiterförmige Anlage, bestehend aus zwei Fahrstollen und 46 Querkammern, ab Herbst 1943 von KZ-Häftlingen für die geplante Montage von V2-Raketen ausgebaut. Vier Querkammern, von denen heute drei besichtigt werden können, dienten in der Anfangszeit des Lagers als „Schlafstollen“ für jeweils mehrere Tausend Häftlinge, die sich auf notdürftig eingebauten vierstöckigen Holzpritschen drängten. Insbesondere diese Anfangsphase des KZ-Außenlagers Dora mit mörderischen Lebens- und Arbeitsbedingungen prägte den Begriff von der „Hölle von Dora“, der sich später in den Erinnerungsberichten vieler Überlebender findet. Die gleichen, heute zu besichtigenden Stollenkammern, in denen die Häftlinge in den ersten Monaten hatten schlafen müssen, wurden ab August 1944 als Produktionsorte für die Flugbombe V1 genutzt. Auch hierfür mussten KZ-Häftlinge, die im inzwischen fertiggestellten oberirdischen Barackenlager untergebracht waren, Zwangsarbeit leisten.

Nach der Sprengung der Eingänge durch die sowjetischen Militärbehörden 1947/48 war die Untertageanlage über mehrere Jahrzehnte verschlossen. Seit 1995 ist das Stollensystem durch einen neu angelegten Tunnel für Besucher:innen zugänglich. Seitdem können ein Teil des Fahrstollens A sowie die beschriebenen drei Querkammern besichtigt werden. Der Zustand, wie er bei der Öffnung des Stollens vorgefunden wurde, ist so wenig wie möglich verändert worden. In den ehemaligen Montagekammern liegen zerstörte Werkseinrichtungen, Reste aus der Produktion und heruntergefallene Gesteinsbrocken durcheinander.

Dominik Černý: „K.L. Dora: Wohnen im Stollen“ („Bydlení ve Štole“). Holzschnitt, Blatt der Folge „K.L. Dora-Sanderhausen“, 1953 (KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora)

Worum geht es bei der Neugestaltung?

Die im Jahr 1999 im Stollen eröffnete Ausstellung entspricht zum einen nicht mehr dem aktuellen fachwissenschaftlichen Forschungsstand und zum anderen nicht den didaktischen Ansprüchen. Deshalb hat die KZ-Gedenkstätte 2021 einen Projektantrag erarbeitet, dessen Förderung im Frühjahr 2022 von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien bewilligt wurde. Der Bund und das Land Thüringen stellen mit gleichen Anteilen die Mittel zur Realisierung der Neuerschließung bereit. Es geht dabei nicht um eine Ausstellung im eigentlichen Sinne, da eine Besichtigung der Stollenanlage nur im Rahmen einer Führung möglich ist. Folglich ist es das Ziel der Neuerschließung, die Bildungsreferent:innen an einigen zentralen Stationen der Führung im Stollen mit gestalterischen Mitteln inhaltlich zu unterstützen.

Es handelt sich also um eine Neugestaltung der didaktischen Erschließung des Stollens: Mithilfe einer zurückhaltenden Gestaltungssprache soll den Besucher:innen anhand sparsam und gezielt gesetzter visueller Anker die Einordnung des historischen Ortes ermöglicht werden. Die Stollenanlage selbst bleibt dabei das zentrale Exponat. Es gilt jedoch, die historische Imaginationsfähigkeit der Besucher:innen durch schlaglichtartigen Einsatz von Exponaten zu stärken. Im Mittelpunkt der Vermittlung steht die untertägige Unterbringung von Häftlingen in den sogenannten Schlafkammern vom Herbst 1943 bis zum Frühsommer 1944. In diesen Monaten starben an diesem Ort Tausende Häftlinge; es ist davon auszugehen, dass sich im Stollen auch sterbliche Überreste befinden.

„Der Stollen war kalt und feucht und die Luft stark verpestet durch die Pressluftbohrungen und Dynamitsprengungen. Es gab so gut wie kaum Hygiene, weil es kein Wasser gab. Als Aborte dienten halbierte Benzinfässer, worüber Sitzbretter gelegt worden waren.“

Albert van Dijk, 1924-2021. Ehemaliger Häftling des KZ Mittelbau-Dora

Die konkrete Gestaltung

Sieger des Gestaltungswettbewerbs, an dem im Oktober 2022 sechs Gestaltungsbüros teilnahmen, wurde die Bürogemeinschaft aus GfG/Gruppe für Gestaltung GmbH + oblik identity design GbR. Kernaufgabenstellung des Wettbewerbs war es, eine „Idee für eine zurückhaltende didaktische Erschließung“ der Stollenanlage zu liefern. Der siegreiche Entwurf überzeugt vor allem, weil er ein durchdachtes Gesamtkonzept vorsieht, von dem die einzelnen Gestaltungsdetails abgeleitet werden. Durch die Gestaltung entsteht eine klare Gliederung der Topografie der Stollenanlage; die Konzepte zur Material- und Farbwahl gehen auf die schwierigen Bedingungen unter Tage ein und dienen der Herausarbeitung einer einfachen Orientierung im Raum.

Die Gestalter:innen setzen auf eine klare und sachliche Gestaltungssprache. Damit soll der etwaig vorhandenen Faszination der vermeintlichen „Wunderwaffe“ V2 entgegengewirkt werden. Diesem Ansatz folgen sowohl das Beleuchtungskonzept als auch die wenigen gezielt eingesetzten Tafeln. Diese sollen als Schlaglichter fungieren, die an zentralen Stellen der Stollenführung historische Abbildungen – Fotografien und Zeichnungen – oder Zitate von Überlebenden zeigen. Auch bei der Materialwahl überzeugt der Entwurf des Gestaltungsbüros, weil er Materialien – Lochblech, Sichtbeton, emaillierter Lavastein – vorsieht, die unter Berücksichtigung der klimatisch schwierigen Bedingungen unter Tage zum einen langlebig und witterungsbeständig und zum anderen sofort als modernes Element zu erkennen sind.

Stollenmodell mit den geplanten Erweiterungen (gelb)

Die Neugestaltung beginnt gleich nach dem Durchschreiten des modernen Zugangstunnels beim Betreten des historischen Fahrstollens. Das dort seit 1999 zu sehende Stahlmodell der Stollenanlage ist der erste wichtige Haltepunkt jeder Führung unter Tage: Die Bildungsreferent:innen erläutern dort die Ausmaße und Entwicklung des Umbaus der Stollenanlage zu einer unterirdischen Rüstungsfabrik. Deutlich wird den Besucher:innen die Größe der Gesamtanlage, wenn ihnen am Modell gezeigt wird, dass sie in der etwa 30- bis 45-minütigen Führung nur einen sehr kleinen Teil der Anlage begehen. Eine wichtige Neuerung besteht in einer Erweiterung des Modells: In Farbe und Form deutlich erkennbar werden nun die gigantomanischen Pläne der Nationalsozialist:innen sichtbar gemacht, die Ende 1944 bereits in Bauzeichnungen umgesetzt wurden. Auf diese Weise wird noch stärker die Realität des KZ Mittelbau-Dora als Baulager mit mörderischen Arbeitsbedingungen verdeutlicht: Die weitaus meisten Häftlinge wurden nicht zur eigentlichen Arbeit in der Rüstungsproduktion eingesetzt, sondern zum fortgesetzten Bau immer neuer Untertageverlagerungsprojekte für die anvisierte künftige Rüstungsproduktion. Die meisten dieser Pläne blieben eine Wahnvorstellung, der tausendfache Tod der auf den Baustellen erschöpften Häftlinge aber war real.

Rampe zur Schaffung von Barrierearmut.
Der künftige Blick in die Stollenkammer 46.

Ein sehr wichtiges Element der Neuerungen wird ebenfalls noch im ersten Teil der Stollenführung eine Rampe zur Schaffung von Barrierearmut sein. Es ist unser Ziel, es allen Besucher:innen zu ermöglichen, den Steg durch die Stollenanlage zu betreten oder zu befahren. Dafür wird die Treppe, die bisher benutzt werden musste, durch eine Rampe ersetzt werden. Am Rand dieser breiten Rampe werden einzelne Zitate überlebender Häftlinge zu lesen sein, die einen Eindruck von dem unterirdischen Leiden der KZ-Häftlinge geben. Schlaglichtartig werden ergänzend an dieser Stelle Zeichnungen ehemaliger Häftlinge die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Stollen veranschaulichen.

Die anvisierte Umsetzung des Gestaltungsentwurfs lässt sich an der Kammer 46 des Stollensystems erläutern. Die Plattform vor dieser Kammer ist ein wesentlicher Haltepunkt aller Führungen. Die erste Kammer, die während eines Rundgangs besichtigt werden kann, steht gleichzeitig für den Ausgangspunkt des KZ Mittelbau-Dora: Dies war eine der vier „Schlafkammern“, in denen die Häftlinge in den ersten Monaten des neugegründeten Lagers untergebracht waren. Ein sogenannter Ankerpunkt, ein länglicher Stab aus gelbem Stahlblech, markiert diese Stollenkammer 46. Ein Schlaglicht setzt eine Reproduktion des Holzschnitts, den der ehemalige Häftling Dominik Černý nach 1945 angefertigt hat. Černýs Holzschnitt zeigt die Situation in diesen völlig überfüllten Schlafkammern.

Die inhaltliche Arbeit mit der Auswahl und genauen Positionierung der Exponate und Zitate sowie die detaillierte Festlegung der konkreten Gestaltung werden die Gedenkstätte in den nächsten Monaten beschäftigen. Im Winter 2023/24 ist dann die Umsetzung der didaktischen Neuerschließung der Stollenanlage vorgesehen. Die Wiedereröffnung des Stollens nach einer kurzen Schließung während der Baumaßnahmen und die Präsentation der Neugestaltung werden bei der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora im April 2024 erfolgen.


Über diesen Text

Der Text erschien zuerst in den Reflexionen 2023, dem Jahresmagazin der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Wir haben ihn mit freundlicher Genehmigung übernommen.

Zum Original-Beitrag:
https://www.stiftung-gedenkstaetten.de/reflexionen/reflexionen-2023/neue-blicke-auf-die-hölle-von-dora

Über die Autor:innen

Anett Dremel ist Stellvertretende Leiterin der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und Leiterin der Dokumentationsstelle der Gedenkstätte.

Karsten Uhl war bis 2023 Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und ist derzeit Leiter der Abteilung Forschung und Dokumentation der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte.


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